Behandlungsmöglichkeiten

Für viele Patienten und die betroffenen Familien stellt bereits die Diagnose eine deutliche Entlastung dar. Bei Kindern kommt der Aufklärung der Lehrer eine wichtige Bedeutung zu. Bei allen Patienten mit Tourette-Syndrom ist zu prüfen, ob neben den Tics auch psychiatrische Komorbiditäten – etwa eine Zwangsstörung, ADHS oder Depression – bestehen, da diese oft zu einer weitaus stärkeren Beeinträchtigung der Lebensqualität führen als die Tics und somit meist vorrangig behandelt werden müssen.

Bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Behandlung müssen die spontanen Fluktuationen der Tics berücksichtigt werden. Behandlungsempfehlungen für Tics sind nicht abhängig von der Art der Tics oder der Tic-Störung und gelten auch für symptomatische Tics. Die Behandlung von Kindern unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der bei Erwachsenen. Allerdings hat die nur bei Kindern auftretende transiente Tic-Erkrankung meist einen besonders gutartigen Verlauf und bedarf wegen der geringen Symptomausprägung und des selbstlimitierenden Verlaufs kaum jemals einer Behandlung.

Der psychische Leidensdruck der Betroffenen, ist aufgrund der auffälligen, nicht kontrollierbaren Symptome in manchen Fällen hoch – insbesondere beim Tourette-Syndrom. Die Komplexität mancher Tic-Störungen ruft mitunter bei der Umwelt (Familienmitglieder, Freunde, Lehrer) großes Erstaunen und auch Ärger oder Zurückweisung hervor. Viele Nicht-Betroffene können sich nicht vorstellen, dass diese Handlungsweisen und Lautäußerungen tatsächlich unwillkürlich und krankheitsbedingt sind, z.B. da die Betroffenen zumindest zeitweise eine Kontrolle über ihre Tics erlangen können. Manche Personen fühlen sich durch die Tics provoziert; insbesondere wenn es sich um Koprolalie/Kopropraxie handelt. Daher sind berechtigte Angst vor Spott aufgrund der Tics und auch Schamgefühle sehr häufig bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Tic-Störungen bzw. Tourette-Syndrom zu finden. Anderseits sind viele Betroffene gut sozial integriert, sofern die Symptomatik nicht zu ausgeprägt ist oder sie in einem aufgeklärten Umfeld aufwachsen.

Häufig bemerken die betroffenen Kinder ihre Tics zunächst gar nicht. Meistens werden die Eltern bzw. Erzieher auf diese – in ihren Augen – Verhaltensauffälligkeiten aufmerksam. Sie fühlen sich oftmals gestört, machen sich Sorgen und überlegen, ob sich nicht Erziehungsfehler dahinter verbergen können, selbst wenn die sonstige Entwicklung der Kinder gut verläuft. Bei den meisten Betroffenen bessern sich die Symptome nach der Pubertät oder verschwinden sogar ganz. Andere begleiten die Tics durchs ganze Leben. Jungen sind viermal so oft betroffen wie Mädchen. Die Gründe dafür sind bislang unbekannt. Experten schätzen, dass rund ein Prozent der Menschen ein Tourette-Syndrom entwickeln – in Deutschland wären das ungefähr 800.000 Menschen.

Das Habit Reversal Training (HRT) ist eine verhaltenstherapeutische Technik, deren Hauptelement das Einüben eines alternativen Verhaltens darstellt. Patienten mit Tics sollen dafür das den Tics vorangehende Vorgefühl bewusst wahrnehmen, um dann vor Eintritt des Tics eine Alternativbewegung auszuführen, die mit der Durchführung des Tics inkompatibel ist.

Das Exposure and response prevention (ERP)-Verfahren zielt darauf ab, den von Patienten mit Tics oft beschriebenen Automatismus zu unterbrechen, dass einem Vorgefühl immer auch ein Tic folgen müsse.

Ersten Studien zufolge führen beide Techniken zu einer Tic-Reduktion von 30-35%.

Medikamente

Neuroleptika gelten als Substanzen der 1. Wahl in der Behandlung von Tics, auch wenn sie recht häufig zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen. Alle Medikamente sollten einschleichend dosiert und langsam bis zum Eintritt einer positiven Wirkung oder nicht tolerabler Nebenwirkungen gesteigert werden.

Typische Neuroleptika

Haloperidol (Handelsname: Haldol) ist bis heute das einzige in Deutschland für die Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassene Medikament. Die Wirkung von Haloperidol und auch von

Pimozid gilt als belegt. Wegen stärkerer Nebenwirkungen (am häufigsten Müdigkeit, Gewichtszunahme und Sexualfunktionsstörungen) sind beide Substanzen aber lediglich als Reservepräparate einzustufen. Andere klassische Neuroleptika haben in Deutschland in der Behandlung von Tics keine Bedeutung.

 

Atypische Neuroleptika

Tiaprid (Handelsname: Tiapridex) gilt in Deutschland bei Kindern seit Jahren als Medikament der 1. Wahl. Häufigste Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schwindel, Appetit- und Gewichtszunahme, Hyperprolaktinämie und Sexualfunktionsstörungen.

Sulpirid (Handelsname: Dogmatil) nur wenige unkontrollierte Studien vor, die eine positive Wirkung von Sulpirid auf Tics (und möglicherweise auch auf Zwänge) annehmen lassen.

Risperidon (Handelsname: Risperidal) ist das bei weitem am besten untersuchte Medikament. Es führt sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu einer Tic-Verminderung um 41-62%.

Aripiprazol (Handelsname: Abilify) ist relativ neu (erst sein 2004 in Deutschland zugelassen) es liegen aber bereits zahlreiche Fallberichte über positive Behandlungsergebnisse vor. Führt im Gegensatz zu anderen Neuroleptika nicht zu einer Gewichtszunahme, Prolaktinerhöhung und Sexualfunktionsstörung, und seltener zu extrapyramidal-motorischen Symptomen. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Unruhe, Schlafstörungen, aber auch Schläfrigkeit, Kopfschmerzen und gastrointestinale Symptome.

 

Noradrenerg-wirksame Substanzen

Diese Medikamente werden vornehmlich bei Kindern und Jugendlichen mit Tics und komorbider ADHS eingesetzt.

Clonidin (Handelsname: Catapresan) ist ein Präparet zur Behandlung von ADHS, welches bei einer gleichzeitig vorliegenden Tic-Störung einen positiven Effekt auf die Tics haben kann. Häufigste Nebenwirkungen sind Müdigkeit und Schwindel.

 

Botulinumtoxin

Eine Behandlung mit lokalen Botulinumtoxin-Injektionen kann in Erwägung gezogen werden, wenn einzelne wenig fluktuierende Tics (hervorgerufen durch gut identifizierbare und zugängliche Muskeln) zu einer relevanten klinischen Beeinträchtigung führen. Nach bisherigen Erfahrungen ist die Wirksamkeit bei motorischen Tics im Gesicht und am Nacken am besten. Allerdings wurde mehrfach auch über Behandlungserfolge bei vokalen Tics berichtet.

 

Cannabinoide und Cannabismedikamente

Neben Berichten von Patienten über positive Wirkungen von Cannabis sativa auf verschiedene Symptome des Tourette-Syndroms, fanden sich in zwei kleinen Studien Hinweise auf eine Tic reduzierende Wirkung von delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), dem am stärksten psychotrop wirksamen Inhaltsstoff der Cannabispflanze. Die Wirkung gilt allerdings nicht als erwiesen. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kann seit kurzem alternativ auch ein Antrag für eine Behandlung mit einem Cannabis-Extrakt oder –kraut gestellt werden.

 

Operative Behandlung mittels tiefer Hirnstimulation

Kleinen und meist unkontrollierten Studien zufolge führt die tiefe Hirnstimulation nicht nur zu einer Verminderung der Tics, sondern auch von psychiatrischen Komorbiditäten wie Zwang, Depression, Angst und Autoaggression. Unklarheit besteht derzeit allerdings noch über den geeigneten Zielpunkt. Nach heutigem Kenntnisstand stellt die tiefe Hirnstimulation eine vielversprechende Behandlungsalternative für schwer betroffene und Therapie resistente erwachsene Patienten dar